Mittel wie Ozempic oder Wegovy sind sehr wirkungsvoll gegen schweres Übergewicht bei Erwachsenen und Jugendlichen. Nun zeigen erste Ergebnisse: Das könnte auch bei Kindern funktionieren – aber noch sind Fragen offen.
Wer Tisch und Küche mit pubertierenden Jugendlichen teilt, die in enormem Tempo Nudelberge verschlingen und Kühlschränke plündern, aber dennoch sehnendürre „Spargel“ bleiben, kann sich das Gegenteil kaum vorstellen: Kinder, die bereits zur Einschulung stark übergewichtig sind und es sowohl in der Pubertät als auch im Erwachsenenalter bleiben. Für diese Kinder ist der Leidensdruck groß, und Versuche, ihren Lebensstil zu ändern, sind oft wenig erfolgreich. Eine medikamentöse Behandlung in jungen Jahren könnte helfen, obwohl Arzneimitteltherapien in dieser Altersgruppe auch auf Vorbehalte stoßen.
Unter Beteiligung und Finanzierung des Herstellers Novo Nordisk haben Kinderärzte aus den USA das Abnehmmittel Liraglutid bei stark übergewichtigen Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren untersucht. Die im New England Journal of Medicine und auf einer Fachtagung vorgestellten Ergebnisse zeigen demnach, dass die Abnehmspritze auch bei Kindern mit Fettleibigkeit effektiv wirkt, weswegen Fachleute mit einer baldigen Zulassung für diese Altersgruppe rechnen.
Ein Jahr lang bekamen 56 Kinder täglich eine Spritze Liraglutid, während die 26 Kinder in der Vergleichsgruppe jeden Tag eine Placebo-Injektion erhielten. Im Mittel wogen die Kinder 70 Kilogramm bei einer durchschnittlichen Körpergröße von 1,49 Meter. Zusätzlich wurden die Familien beraten, wie sich die Kinder gesund ernähren und regelmäßig körperlich aktiv sein konnten. In der Gruppe, die das Medikament bekam, verringerte sich der durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI) der Kinder nach einem Jahr um 5,8 Prozent, während er in der Gruppe mit dem Scheinmedikament um 1,6 Prozent anstieg. Da Kinder in diesem Alter beständig an Größe und Gewicht zulegen, nahmen alle Teilnehmer während der Untersuchungsphase zu; die Kinder unter Liraglutid 1,6 Prozent, jene in der Placebogruppe um zehn Prozent.
„Bisher gibt es für diese Altersgruppe keinerlei Medikation, um die Adipositas zu behandeln“, sagt Daniel Weghuber, Chef der Unikinderklinik Salzburg. Beim Großteil der Jugendlichen, bei denen eine Adipositas bestehe, bestand sie bereits zum Zeitpunkt der Einschulung und bleibe meist bis ins Erwachsenenalter. Als bisherige Behandlung war es nur möglich, im Rahmen einer Familienschulung auf Veränderungen des Lebensstils hinzuwirken. „Das ist leicht gesagt, aber sehr schwierig umzusetzen“, so Weghuber. „Insofern ist diese Studie für Kinder mit einer extremen Form von Adipositas ein wesentlicher ergänzender Schritt hin zu einer möglichen Therapie.“ Umgerechnet entspreche der Unterschied in der Gewichtsveränderung zwischen beiden Gruppen dem Zehnfachen dessen, was man von einer Lebensstiländerung erwarten würde, so Weghubers Schätzung.
Für Martin Wabitsch, Experte für kindliche Hormonerkrankungen und Diabetes am Uniklinikum Ulm, ist der Effekt der Behandlung sogar „höher als erwartet“ ausgefallen. Im Jahr 2020 habe eine ähnliche Studie bei Jugendlichen zu weniger deutlichen Gewichtsveränderungen geführt, obgleich diese ebenfalls klinisch relevant gewesen wären. „Scheinbar führt eine frühere Intervention mit Liraglutid auch zu einer besseren Wirkung“, so Wabitsch.
Während Medikamente wie Semaglutid (Handelsname Ozempic oder Wegovy) und Tirzepatid (Mounjaro), die zur gleichen Substanzgruppe gehören, längst zu Lifestyle-Mitteln geworden sind, die auch von Gesunden genommen werden, um ein paar Fettpölsterchen wegzuschmelzen, soll die Indikation für Liraglutid bei Kindern begrenzt bleiben. „Das Mittel kommt künftig vor allem für Kinder mit extremer Fettleibigkeit infrage, sicher nicht für alle Kinder mit Adipositas“, sagt Wabitsch. „Dies ist eine kleine Gruppe von Patienten, bei denen unter anderem ein Defekt der zentralen Regulation von Hunger und Sättigung vorliegt.“ In Ulm sei gerade eine Studie in Arbeit, wie Semaglutid, das nur einmal wöchentlich injiziert werden muss, bei sechs- bis zwölfjährigen Kindern wirkt, mit Ergebnissen sei 2025 zu rechnen.
Medikamente wie Liraglutid gehören zur Gruppe der Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1)-Rezeptoragonisten und hemmen das Hungergefühl, indem sie auf entsprechende Hirnzentren wirken. Dies kann Patienten helfen, Ernährungsänderungen im Alltag besser umzusetzen. Zur Behandlung von Diabetes und Übergewicht bei Erwachsenen und Jugendlichen sind Liraglutid und die anderen Mittel aus der Gruppe bereits zugelassen.
Unerwünschte Nebenwirkungen, besonders Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, kamen in der Studie bei 80 Prozent der Teilnehmer vor, verliefen aber zumeist milde. In der Liraglutid-Gruppe kam es in 12,5 Prozent der Fälle zu schwereren Nebenwirkungen wie heftigem Erbrechen und einer Darmentzündung, allerdings kam dies auch bei 7,7 Prozent der Kinder in der Placebogruppe vor.
Da die appetithemmende Wirkung des Mittels wegfällt, sobald man es absetzt, kommt es anschließend fast immer zur Gewichtszunahme. Die gesundheitlichen Folgen einer dauerhaften Medikamenteneinnahme können bisher allerdings nicht abgeschätzt werden. Die Frage, wie lange Kinder sinnvoll mit Liraglutid therapiert werden müssten und ob und wann man die Spritze wieder absetzen könne, „lässt sich heute nicht beantworten“, so Wabitsch.
Andererseits geht extremes Übergewicht bei Kindern mit erheblichen Gesundheitsgefahren einher. Schon lange ist bekannt, dass aus fettleibigen Kindern häufig fettleibige Erwachsene werden und ihr Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Leiden, Lebererkrankungen und Gelenkbeschwerden bereits früh im Leben stark erhöht ist. Laut Daten der Kiggs-Studie gelten in Deutschland 15,4 Prozent der Kinder im Alter zwischen drei und 17 Jahren als übergewichtig, darunter 5,9 Prozent als fettleibig. Im Vergleich zu früheren Erhebungen ist kein weiterer Anstieg zu beobachten, allerdings ist die Häufigkeit stark von Bildung und Einkommen abhängig. So waren unter den Kindern mit dem höchsten sozioökonomischen Status nur 6,5 (Mädchen) und 8,9 (Jungen) Prozent übergewichtig, in der Gruppe mit dem niedrigsten Status waren es hingegen 27 (Mädchen) und 24,2 (Jungen) Prozent.
Unter Wissenschaftlern gibt es bisher keine einheitliche Meinung dazu, welche Veränderungen des BMI während des Wachstums gesund und sinnvoll wären. „Wie sich ein relevanter Gewichtsverlust in dieser Entwicklungsphase auswirkt, ist nicht bekannt“, sagt die Ernährungsexpertin Nerys Astbury von der Universität Oxford, die in Erinnerung ruft, dass alle Medikamente Nebenwirkungen haben. „Obwohl es keine Hinweise gab, dass Liraglutid sich schädigend auf die Knochen, das Längenwachstum oder den Eintritt der Pubertät auswirkte, brauchen wir längerfristige Daten von den Patienten und ihrer weiteren Entwicklung.“
Mit Material vom Science Media Center
2024-09-11T17:04:38Z dg43tfdfdgfd