MEDIZIN: GESUNDER RüCKSCHRITT

Haltung, Gleichgewicht, Stabilität: Ab und zu rückwärtszulaufen, kann durchaus medizinische Vorteile haben. Allerdings ist die Kollisionsgefahr nicht zu unterschätzen.

Gesunder Rückschritt

Raus aus der Komfortzone - das gilt nicht nur für den Kopf, sondern auch für Knochen und Gelenke. Schön behutsam natürlich und langsam die Dosis steigern. Allerdings ist die Idee von Physiotherapeuten und Orthopäden womöglich auch für eine Neuaufnahme des Monty-Python-Sketches "The Ministry of Silly Walks" geeignet. In dem Comedy-Klassiker von 1970 sind Mitarbeiter eines Ministeriums auf exzentrische Gangarten spezialisiert und befinden darüber, welche Fortbewegungsmarotte mit Fördermitteln unterstützt wird.

Motorikexperten haben immer wieder vorgeschlagen, gelegentlich rückwärtszugehen. Da es einen Trend auf Tiktok gibt, wird diese Bewegungsform aktuell im Scientific American diskutiert. Wer von ästhetischen Fragen absieht, findet durchaus medizinische Vorteile des ungewöhnlichen Gangs. Für ältere Menschen mit Gelenkproblemen könne es demnach hilfreich sein, ab und zu rückwärtszugehen, argumentiert die Physiotherapeutin Kristyn Holc aus New Jersey. Wenn bei Arthrose im Knie jeder Schritt vorwärts schmerzt, entlaste die ungewohnte Bewegung das lädierte Bein und verbessere die Mobilität. Zudem würden vernachlässigte Muskelgruppen auf diese Weise gestärkt. Alpinisten kennen den Rat, rückwärts bergab zu gehen, wenn die Kniescheiben schmerzen.

Tatsächlich ist bei den meisten Menschen der Quadrizeps an der Vorderseite des Oberschenkels stärker ausgeprägt als der Gegenspieler auf der Rückseite. Auch die Glutealmuskeln am Gesäß werden durch den rückwärtigen Gang gekräftigt, der in Fachbeiträgen als Retro-Ambulation bezeichnet wird, was vornehmer klingt, als es aussieht. Zudem sind die Hüftbeuger stärker gestreckt und gedehnt, wenn die Füße nach hinten anstatt nach vorne gesetzt werden. Die Aktivierung all dieser Muskelgruppen kann die Haltung verbessern, den Gang stabilisieren, das Gleichgewicht stärken und so Stürzen vorbeugen.

Fußballer und Handballer wärmen sich mit Seitwärts- und Rückwärtsläufen auf

"Als Koordinationsübung ist das gut und vielfach erprobt", sagt der Orthopäde Marcus Schiltenwolf von der Uniklinik Heidelberg. "Rückwärtsgehen verbessert die funktionellen Kompetenzen. Einfluss darauf, ob die Arthrose fortschreitet, haben solche Übungen aber nicht." Gegen Gelenkverschleiß ist es hilfreich, den kompletten Bewegungsradius der Knochenverbindung zu nutzen. Zudem verbessert sich dadurch das neuromuskuläre Wechselspiel. Auch deshalb gehören Seitwärts- und Rückwärtsläufe zum Aufwärmtraining bei etlichen Ballsportarten. "Wer sich auf diese Weise fit hält, spürt das Altern weniger", sagt Schiltenwolf.

Allerdings ist Vorsicht erste Rückwärtsläuferpflicht. Der Mensch hat schließlich keinen eingebauten Rückspiegel. Auf dem Laufband lässt sich die Bewegung besser kontrollieren, alternativ kann eine Begleitung vorwärts nebenherlaufen. Trotzdem bleiben manche Ärzte skeptisch. "Ich denke, dass die Evolution ihre Berechtigung hat, obwohl wir dem aufrechten Vorwärtsgang auch einige Baustellen zu verdanken haben", sagt der Münchner Orthopäde Hartmut Gaulrapp. "Es ist auch lästig, dass man rückwärtslaufend den Kopf dauernd drehen muss, aber das könnte immerhin die Halswirbelsäule mobilisieren." Und es verhindert Stürze - und das wäre ein echter Fortschritt.

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